Im Jahre 2005 begann ich, mehr und mehr auf Widersprüche zu stoßen zwischen dem, was Dr. V. Vojta in seinen Büchern schrieb, und der bisher auf den Bewegungsapparat angewandten Sichtweise. D. h., wie die derzeitige moderne Anatomie, Neurophysiologie oder Biomechanik die Bewegung des Menschen betrachtet. Dieser Widerspruch wurde noch deutlicher, als ich die Vojta-Methodik in der Therapie selbst anwandte. Je mehr ich mich bemühte, eine Antwort in der Fachliteratur zu finden, desto größere Unklarheiten und Zweifel kamen auf, dass hier etwas grundsätzlich nicht stimmt. Die Zweifel waren gewagt, aber schrittweise gelang es mir, einzelne Teile des Mosaiks zu finden, das den Bewegungsapparat und die eigentliche Bewegung des Menschen in einem völlig anderen Licht erscheinen ließ. Es handelte sich um eine räumliche Darstellung in 3D bzw. um eine funktionelle Darstellung der Beweglichkeit im realen dreidimensionalen Raum.
Ich möchte mich in diesem Buch vor allem den Erfahrungen bezüglich der Funktionsweise der Vojta-Methodik widmen, wie ich sie schon jahrelang erfolgreich in der Praxis anwende. Die Vojta-Methodik lässt sich, ohne sich in Fächern wie Anatomie, Neurophysiologie, Entwicklungsneurologie, Biokybernetik, Kinesiologie als Wissenschaft über die Bewegung des menschlichen Körpers oder Biomechanik genauer auszukennen, nur schwierig erklären.
Diese breiteren Zusammenhänge werden zu „conditio sine qua non“, also zu Bedingungen, ohne die man nicht oder nur sehr schwierig auskommt. Sie sind notwendig, zugleich jedoch nicht ausreichend.
Dr. Václav Vojta begann ab Mitte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts, die ersten Erkenntnisse über die Nutzung der „Reflexlokomotion“ zu veröffentlichen. Im Laufe der Jahre entstand ein sehr originelles diagnostisches und therapeutisches Konzept, das vor allem auf von Kinderlähmung betroffene Kinder abzielte. Allmählich wurde das Spektrum von Diagnosen, bei denen man die Vojta-Methode einsetzte, breiter. Zugleich waren frühzeitigere und genauere Diagnosen möglich, und dadurch auch die Erkennung drohender Hirnschäden noch während des ersten Lebensjahres des Kindes, wenn sich eine Reihe von Schäden durch rechtzeitige Therapie vermeiden lassen.
Da uns die Generation, zu der Dr. V. Vojta gehörte, schon langsam verlässt, bleibt uns nichts anderes übrig, als den „Staffelstab“, und damit auch die Verantwortung zu übernehmen. Für gewöhnlich trägt jede nachfolgende Generation mit etwas Neuem zum Guten bei, das sie von der vorigen Generation geerbt hat. Also bemühe ich mich, das wirklich außerordentlich Gute, was uns Dr. Václav Vojta hinterlassen hat, voranzubringen und weiterzuentwickeln.
Ich kann darauf vertrauen, dass die Beurteilung dessen, inwieweit meine Bemühungen erfolgreich sind, von den „Früchten“ abhängt, die sie tragen werden.
Wegen der didaktischen Unterschiedlichkeit der klassischen Vojta-Methodik und der Vojta-Methodik unserer 2. Generation habe ich mir erlaubt, die Bezeichnung Vojta-Methodik der 2. Generation – im weiteren Text abgekürzt nur noch VM2G – zu verwenden.
Schon viele Jahre interessiere ich mich für eine Reihe wichtiger Fragen bezüglich der Interpretation der Vojta-Methode, die bisher nicht gänzlich zufriedenstellend beantwortet wurden. Unbeantwortet bleiben vor allem Fragen betreffend die theoretische Grundlage der Funktionsweise der Methodik.
Die derzeitige, wenig hinterfragte, klinische Anwendung „bewährter statischer Vorstellungen“ hinsichtlich des Bewegungsapparats führt zu Ergebnissen, die man nicht als optimal bezeichnen kann, vor allem unter dem Gesichtspunkt der langzeitigen Erhaltung einer guten Funktion des Bewegungsapparates. Über die Existenz einer Möglichkeit, die Beweglichkeit bis ins hohe Alter auf einem guten und, was die Funktion angeht, problemlosen Niveau zu halten, schweigt man lieber, obgleich dies bei einer Reihe anderer Organsysteme sehr gut gelingt, und diese sich durch Austausch praktisch bis ans Ende des Lebens erneuern lassen.
Der Anatom Andreas Vesalius hat im 16. Jahrhundert die Auffassung der Bewegungsapparatfunktionen von der deskriptiven Anatomie einer Leiche eingeführt, und diese gilt bis heute. Der deskriptive Aspekt des Bewegungsapparates im Zustand der „Unbeweglichkeit“ ist eine Beschreibung im zweidimensionalen Raum und auch eine analytische Deskription. Die fragmentare Beschreibung der Funktionen einzelner Muskel sowie die Betrachtung des Bewegungsapparates im Zustand einer „Leiche“ sind sicher gut geeignet für die Arbeit eines Chirurgen, jedoch völlig unzureichend für das ganzheitliche Verständnis des Bewegungsapparates und seiner physiologischen Funktionen, z. B. der Fähigkeit zum aufrechten Stehen auf zwei Extremitäten und zur bipedalen Lokomotion. Alles deutet darauf hin, dass die derzeitige deskriptive Anatomie nicht fähig ist, in voller Breite die tatsächlichen Zustände und komplexen Funktionen des Bewegungsapparates zu erfassen.
Was ist eigentlich das Ziel der Rehabilitations-bemühungen?
Wissen wir, was für ein Zieleffekt sie beim konkreten Patienten in seiner konkreten Situation haben? Was ist eigentlich die richtige Körperhaltung? Existiert so etwas wie „der goldene Schnitt“, auf welchen sich die Entscheidung beziehen könnte, wo man beginnen und was man anstreben soll? Wie sollen grundlegende Bewegungsstereotypen aussehen? Außer der visuellen, subjektiven Beurteilung ist bisher in der klinischen Praxis die Erfassung des Verlaufes von Bewegungstrajektorien und ihre elektronische Verarbeitung nicht üblich.
Wie trägt die Kenntnis spiraler Bewegungstrajektorien einzelner Extremitäten zum Verständnis der Bewegungstrajektorie des gesamten Körpers bzw. zur „Datenerfassung“ der Schwerpunkttrajektorie des gesamten Körpers bei? Werden wir imstande sein, solche Trajektorien zu registrieren? Sie zu standardisieren, den Toleranzbereich, die Stufen der pathologischen Abweichungen zu bestimmen und die Verifizierung in Bezug auf Alter und Geschlecht zu vorzunehmen?
Ohne Festlegung von Normen bleibt die Beurteilung des Zustandes des Bewegungs-apparates völlig empirisch und subjektiv.
Den Bewegungsapparat muss man als Ganzes „lesen“; ähnlich wie bei einem Mosaik jedes Steinchen seine Bedeutung erst im fertigen Ganzen bekommt. Auch jeder Muskel bekommt seine Funktionen erst im Rahmen der Bewegungsmuster. In einzelnen Bewegungsmustern verändern sich die Funktionen jedes Muskels kontinuierlich. Die derzeitige Auffassung der Muskelfunktionen würde praktisch nicht einmal das grundlegende Funktionieren des Körpers ermöglichen, d. h., sich aufzurichten, zu stehen und zu gehen.
Der Mensch würde auf dem Niveau der holokinetischen Beweglichkeit der Gliedmaßen in der Rücken- oder Bauchlage bleiben, je nachdem, wie man ihn hinlegt, denn er wäre nicht einmal imstande, sich selbst umzudrehen.