Die, vor allem auf den Zeitraum der ersten 12 – 18 Monate nach der Geburt ausgerichtete, Entwicklungskinesiologie ist ein wichtiger Beitrag zum Studium der Bewegung und zur Therapie von Bewegungsstörungen. Die Motorik entwickelt sich selbstverständlich nicht nur während des intrauterinen Lebens, sondern auch nach dem 18. Lebensmonat und setzt sich während der gesamten Kindheit und im gewissen Sinne auch während des gesamten Lebens fort. Die ersten 18 Monate nach der Geburt sind jedoch nach derzeitigen Erkenntnissen die wichtigsten, denn in diesem Zeitraum verlaufen grundlegende Veränderungen, die wichtig für die weitere Entwicklung sind.
Angeborene, genetisch gegebene Bewegungsprogramme befriedigen grundlegende Körperbedürfnisse. Neben Programmen, die das unmittelbare Überleben gewährleisten, gibt es solche, die das Kind befähigen, allmählich Kontakt mit seiner Umgebung aufzunehmen, z. B. durch ein Lächeln, wenn es seine Mutter sieht, oder durch Weinen bei Unzufriedenheit.
Nach der Vorstellung von Dr. Vojta kommt das Kind schon mit genetisch komplizierteren Bewegungsprogrammen zur Welt, die es während der Entwicklung in seine Motorik einbindet. Kolář 1 führt an, dass man mit passender afferenter Stimulierung beim Kind eine posturale Situation herbeiführen kann, aufgrund derer es eine Bewegung vorführt, die es sonst erst auf einer späteren Stufe seiner Entwicklung ausführen könnte. Auf der anderen Seite gibt es die Meinung, dass in dieser Hinsicht das Gehirn des Neugeborenen eher eine „Tabula rasa“ mit nur sehr einfachen Bewegungsmustern darstellt, auf welche das mit der Umgebung in Kontakt stehende Kind seine Motorik durch die Methode „Versuch und Irrtum“ aufbaut. Prinzipielle Bedeutung hat jedoch das angeborene Interesse an der Umgebung, Neugier, das Streben nach Orientierung, Kontakt und Kommunikation. Dies alles dient als Grundlage für den angeborenen und bei jedem gesunden Kind erkennbaren Vertikalisierungsdrang.
Normale oder pathologische Entwicklung ist durch interne und externe Bedingungen gegeben. Interne Bedingungen umfassen genetische Veranlagung (also auch evtl. angeborene Bewegungsprogramme) und Eigenschaften, die während der vorangegangenen Ontogenese erlangt wurden. Zu äußeren Bedingungen gehören die Befriedigung grundlegender Lebensbedürfnisse (Ernährung, Wärme, Licht) und genügend äußere Reize, die das Interesse des Kindes an seiner Umgebung und am eigenen Körper stimulieren und befriedigen. Notwendige Voraussetzung einer normalen Entwicklung sind eine normale genetische Ausstattung, normale Außenbedingungen und die bisherige normale Entwicklung des Individuums. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, führt dies zur Notwendigkeit des Einsatzes von Substitutions- und Kompensationsmechanismen des Organismus.
Typisch für die Entwicklung des Kindes im ersten Lebensjahr ist eine schrittweise Vertikalisierung mit Einschränkung der Stützbasis und wachsender Labilität der Lage. Im Optimalfall geht das Aufrichten mit der Streckung der Extremitäten und einer inneren Rotation ihrer Hauptgelenke aus der ursprünglichen Flexionslage einher, die eine äußere Rotation in den Hauptgelenken der Extremitäten ermöglicht.
Die aufrechte Haltung wird primär mithilfe sog. posturaler Muskeln gehalten, denen sich in dieser Funktion auch die phasischen Muskeln anschließen. Ihr Einsatz stellt aber große Ansprüche an die Steuerungsfunktionen des ZNS und ist bei einem fehlerhaften Verlauf der Entwicklung oder bei einer Beschädigung der ZNS-Funktion unzureichend. In diesem Falle sinkt der Anteil der phasischen Muskeln an der Gewährleistung der aufrechten Körperhaltung, und es steigt der Anteil der posturalen Muskeln, was sich durch einen typischen klinischen Befund bemerkbar macht.
Die aufrechte Körperhaltung stellt zwar höhere Ansprüche an die Erhaltung des Gleichgewichtes, ermöglicht jedoch eine bessere Orientierung, befreit die Hände, um damit Interessensobjekte zu greifen und effektiviert die Lokomotion (Vařeka, Dvořák, 1999).2
Nach Dr. Vojta besteht jede menschliche Lokomotion (also auch RL) aus drei integralen Bestandteilen, und zwar dem Muskeltonus, der posturalen Aktivität und der posturalen Reaktivität (Vojta, 1993).
Vojtas (Lokomotions-)Prinzip beschreibt die drei grundlegenden Bestandteile der Lokomotion:
posturale Aktivität als Fähigkeit, eine aktive aufrechte Lage einzunehmen, posturale Reaktivität, also die Fähigkeit, die aktive aufrechte Lage zu halten, und den angemessenen Muskeltonus, der die Grundlage für sämtliche Motorik bildet.
Die Erfüllung der o. a. Bedingungen ist nicht nur für die Gewährleistung einer hochwertigen Lokomotion, sondern auch für einen hochwertigen Kontakt mit der Umgebung und letztlich auch für hochwertige lebenswichtige Grundfunktionen notwendig.
Postur, posturale Aktivität und posturale Reaktivität
Eine Bedingung der aufgerichteten Körperhaltung ist die Fähigkeit, einen gemeinsamen Schwerpunkt für die Körpersegmente zu finden und diesen im Grundriss der Stützbasis zu halten. Diese Fähigkeit wird durch die Aktivität der vom ZNS gesteuerten Muskeln gewährleistet. Vor der Durchführung einer gewissen Bewegung muss man zuerst imstande sein, eine aktive Lage einzunehmen, die man als Postur bezeichnen kann. Wichtig ist das Adjektiv „aktiv“, durch das sich die Postur – die aktive Lage – von der passiven Lage unterscheidet (z. B. „stabilisierte Lage“ für den Transport eines Bewusstlosen).
Jeder Mensch nimmt automatisch ununterbrochen eine Postur ein (falls er nicht gerade in tiefer Bewusstlosigkeit ist), also auch im Schlaf. Diese Fähigkeit kann man als posturale Aktivität bezeichnen.
Als posturale Reaktivität kann man die Fähigkeit bezeichnen, auf äußere oder innere Veränderungen zu reagieren und die derzeitige Aktivlage zu halten oder eine neue, günstigere Lage einzunehmen.
Attitüde ist eine gesteuerte Veränderung der Postur vor Aufnahme der Bewegung, wenn die eigentliche Bewegung noch nicht verläuft. Diese Aktivität kann man z. B. durch eine EMG-Untersuchung objektivieren. Aber auch ohne komplizierte Untersuchung mit Geräten kann man abschätzen, welche Bewegung der beobachtete Mensch unmittelbar darauf durchführt, z. B. vor dem Ausschreiten verschiebt man das Gewicht auf das zukünftige Stützbein und macht somit die zweite untere Extremität frei zum Ausschreiten, und gleichzeitig nehmen Rumpf, obere Gliedmaßen, Hals und Kopfes eine entsprechende Stellung ein. Einen untrennbaren Bestandteil der Postur bildet ein angemessener Muskeltonus, der die Grundlage für die Motorik bildet. Somit kann man sagen, dass Postur + Bewegungsantizipation = Attitüde ist.
1 KOLÁŘ, Pavel. Rehabilitace v klinické praxi (Rehabilitation in der klinischen Praxis) Praha, 2009, Galen, ISBN 978-80-7262-657-1
2 VAŘEKA I., DVOŘÁK R. Ontogeneze lidské motoriky jako schopnost řídit polohu těžiště (Ontogenese der menschlichen Motorik als Fähigkeit, die Schwerpunktlage zu steuern) Článek: Rehabil. fyz. Lék., 1999, No. 3, pp. 84-85.
Die eigentliche (gezielte) Bewegung stellt eine physische Dynamik dar, die von der Attitüde, und somit von der Postur ausgeht. Die Aussage „Die Postur folgt der Bewegung wie ein Schatten“ wird Sherrington bzw. Magnus zugeschrieben. Nach Janda sagte Sherrington im Jahre 1906: „Posture follows movement like a shadow“ (Janda, 1982, 54). Dr. Vojta zitiert aus dem Vortrag von Magnus vor der Royal Society in London im Jahre 1916: „Each accurate movement starts from a definite posture and ends in the posture. More then, the posture follows the movement like a shadow“ (Vojta, 1993, 31).
Von wem die Aussage stammt, ist interessant, jedoch weniger wichtig. Wichtig ist der eigentliche Inhalt dieser Äußerung und ihr richtiges Verständnis. Die Übersetzung „Die Postur folgt der Bewegung“ ist irreführend und führt zur falschen Auslegung, dass die Postur erst sekundär und von der Bewegung abgeleitet ist. Zutreffender ist die Übersetzung „Die Postur begleitet die Bewegung wie ein Schatten“, denn die Postur steht nicht nur am Anfang und Ende jeder Bewegung (s. Magnus), sondern ist auch ihr Bestandteil.
Die spontane Bewegungsentwicklung des Kindes von der Geburt bis zur Beendigung der Entwicklung absolviert zwingende Meilensteine und endet mit:
- der Körpervertikalisierung
- selbständigem bipedalem Gehen
Diese Meilensteine kann man vor allem durch folgende Veränderungen charakterisieren:
- Veränderung auf dem Niveau der Motoriksteuerung
- anatomischer Umbau des Bewegungsapparates
- Veränderungen der Bewegungsbiomechanik
- Veränderungen der Körpergeometrie
Für den Bedarf der Entwicklungskinesiologie hat sich folgende, von Dr. Vojta eingeführte Klassifikation der Körperseiten eingelebt:
- Gesichtsseite
- Hinterhauptseite
Stütz- und Bewegungspunkte werden folgendermaßen klassifiziert:
- Punktum fixum (PF)
- Punktum mobile (PM)
Rückenlage
Punktum fixum:
- Hinterkopf
- beide Schulterblätter
- beide Beckenflügel
- beide Fußsohlen und beide Ellbogen
Rückenlage
Punctum mobile
- die Bewegungspunkte werden beim Heben der Arme (z. B. zu einem angebotenen Spielzeug) sichtbar
- anschließend bei den Beinen (auch beim Bestreben, etwas zu greifen)
- die Lage ist sehr stabil – sie stützt sich auf 5 – 9 Punkte
Drehen
Der Beginn der Drehbewegung aus der Rücken- in die Seitenlage ist von einer Veränderung der Stütz- und Bewegungspunkte begleitet. Die Bewegung wird durch Drehen des Kopfes bzw. durch Drehbewegung der Augen zum Interessensobjekt hin eingeleitet
PF am Kopf wird von der Stützlage entlastet, um das Drehen des Kopfes zu ermöglichen
PF auf der Gesichtsseite des Körpers werden die Hüft- und Schulterblatt-PF aus der Stützlage dadurch frei, dass sich die gesichtsseitige Hälfte von Brustkorb und Hüfte zu heben beginnt
PF auf der Hinterkopfseite verschieben sie sich vom Schulterblattbereich auf das Schultergelenk und vom Hüftbereich auf das Hüftgelenk
neu entsteht ein PF – am Ellbogen des Arms auf der Hinterkopfseite des Körpers dadurch entsteht eine Dreipunkt-Abstützung des Körpers (Hüfte, Schulter, Ellbogen), die weniger stabil ist, aber den Übergang in eine neue Lage ermöglicht, bei der es wiederum um eine stabile Vier-Punkt-Lage geht (Hüfte, Schulter, Ellbogen und Knie der Hinterkopfseite)
PM der gesichtsseitige Arm wird zum „führenden“ PM
PM beide unteren Gliedmaßen sind „Hilfs- und Balance-“ PM
Seitenlage
Stabile Lage, die der Hand auf der Gesichtsseite ermöglicht, dass sie zur „forschenden“ Hand im Raum über dem Gesicht wird. Es kommt zur ersten funktionsmäßigen Differenzierung der oberen Gliedmaßen nach Stütz- und Phasenfunktion. Die Abstützung erfolgt wieder über vier bzw. fünf Punkte. Der fünfte Punkt ist der seitlich abgestützte Kopf.
PF an der Hinterkopfseite – die obere Extremität hat PF an Schulter und Ellbogen
PF an der Hinterkopfseite – die untere Extremität hat PF an Hüfte und Knie
Seitenlage
PM der Kopf verliert die Stütze (für eine Weile), und dadurch erweitert sich das Sichtfeld
PM der Bewegungsbereich des gesichtsseitigen Arms umfasst den Raum über und vor sich
PM x PF das gesichtsseitige Bein variiert Stützfunktion und Bewegung des Knies, um sicher wieder in die Rückenlage zu gelangen oder sich auf den Bauch zu drehen
Drehen von der Seitenlage in die Bauchlage und zurück
auf der Hinterkopfseite wird durch Abstützen auf dem Ellbogen-PF die Schulter entlastet, und der gesamte Brustkorb wird zum PM.
Diese instabile Position wird durch einen PF auf der Hinterkopfseite des Hüftgelenks gestützt.
Der PF an der Hinterkopfseite des Knies beginnt sich entsprechend der Extension des Beins kaudal zu verschieben.
Der PM der gesichtsseitigen Hand vollendet die Drehung auf den Bauch.
Der PM des gesichtsseitigen Beins hilft dabei, die Hüfte auf den Bauch umzudrehen, wobei sich das Bein vollständig ausstreckt.
Bauchlage – 3.–5. Entwicklungsmonat
Eine stabile Bauchlage sichert das Abstützen der oberen Gliedmaßen auf den Unterarmen.
PF sind die Ellbogen einschl. der gesamten Unterarmfläche
PF weitere wichtige Stütze ist die Hüftsymphyse
PM ist der Kopf, dessen freies Halten auf dem ausgestreckten Nacken eine wesentliche Erweiterung der C-Rotation der Wirbelsäule und somit des Sichtfeldes des Kindes ermöglicht
Bauchlage – 5. – 6. Entwicklungsmonat
Eine stabile Bauchlage sichert das Abstützen der oberen Gliedmaßen auf den Unterarmen.
PF sind die Ellbogen einschl. der gesamten Unterarmfläche
PF weitere wichtige Stütze ist die Hüftsymphyse
PM ist der Kopf, dessen freies Halten auf dem ausgestreckten Nacken eine wesentliche Erweiterung der C-Rotation der Wirbelsäule und somit des Sichtfeldes des Kindes ermöglicht
Bauchlage – 5. – 6. Entwicklungsmonat
Eine weitere Veränderung des Abstützverhaltens ermöglicht die Freisetzung einer Stützhand zum Greifen.
PF bleibt auf der hinterkopfseitigen Hand auf der gesamten Unterarmfläche
PF verschiebt sich von der Symphyse auf beide Hüftgelenke
PF eine neue Stütze entsteht auf der Innenseite des gesichtsseitig ausschreitenden Knies.
Bauchlage – 5. – 6. Entwicklungsmonat
PM Kopf
PM die gesichtsseitige Hand wird von ihrer Stützfunktion befreit und wird zum „Greiforgan“, das zur Befriedigung der Entdeckungsbedürfnisse des Kindes dient. Die Hand wird zur Stereognosie fähig. Bis dahin diente der Mund des Kindes als einzige Möglichkeit zum Kennenlernen der Außenwelt.
Übergang von der Bauchlage in den Schrägsitz – 8. Entwicklungsmonat
Der Schrägsitz ermöglicht den Übergang zum Kriechen auf allen vieren
PF ist auf der Hinterkopfseite auf der offenen Hand
PF am Hüftgelenk der Hinterkopfseite
PF gesamte Oberschenkelfläche und Knie auf der Hinterkopfseite
PM Kopf, der wiederum in eine höhere Lage gelangt, die gesamte ausgedehnte Hals- und Brustwirbelsäule ermöglicht eine stärkere Rotation und erweitert somit auch das Sichtfeld
PM die gesichtsseitige Hand gelangt in die Vertikale über den Kopf
Kriechen auf allen vieren –9. – 10. Entwicklungsmonat
Ist dank kompletter Differenzierung der Stütz- und Bewegungsfunktion sowohl der Arme als auch der Beine möglich.
Grundvoraussetzung für das zukünftige bipedale Gehen.
PF der ausgedehnte hinterkopfseitige Arm dient als Stütze
PF das Knie des gesichtsseitigen Beines dient als Stütze
PM Hinterkopfseitiges Bein
PM Gesichtsseitige Hand