Diese komplexe Sichtweise begreift den Bewegungsapparat des Menschen als ein anatomisches 3D-Konzept, das aus mehreren kinematischen 3D-Systemen besteht. Der Hauptunterschied zwischen dem anatomischen (analytischen) 2D-Konzept und dem kinematischen 3D-System besteht darin, dass das 2D-Konzept nur eine kleine und endliche Anzahl von Freiheitsgraden hat (d. h., unabhängiger Möglichkeiten seiner Zustandsänderung), während die Anzahl der Freiheitsgrade beim 3D-System praktisch unendlich ist.
In der Mathematik sind Techniken zum Umgang mit diesem Problem bekannt. Wäre dem nicht so, könnten solch komplizierte 3D-Systeme überhaupt nicht gesteuert werden. Das Ganze ist hier ganz klar etwas mehr als nur das Produkt einzelner Teile.
Die eigentliche Bewegung und ihre „exekutiven Organe“ – die Muskeln – werden nach globalen Formeln gesteuert. Diese Einstellung zum Bewegungsapparat und seiner Steuerung dient als Grundlage für das synthetische therapeutische Konzept und auch für zukünftige Therapie- und Krafttrainingsgeräte.
Dr. Vojta schuf ein dynamisches Modell des Bewegungsapparates, das auf Beobachtungen der Bewegungsentwicklung des Kindes von seiner Geburt bis zum selbstständigen Laufen im ungefähren Alter von einem Jahr basierte. Er begann mit der Beschreibung der Dynamik der Zusammenwirkung einzelner Muskel, ihrer gegenseitigen Interaktion und der dadurch entstehenden Koordinierung ihres Zusammenspiels, bis er allgemeingültige Muster fand.
Das Konzept der Bewegungssteuerung in 3D umfasst unter anderem auch spiralförmige Muskeldynamik, die von einem dreidimensionalen Raum ausgeht, also auch von der Dreidimensionalität anatomischer Strukturen und der Bewegung in allen drei Achsen.
Der menschliche Bewegungsapparat hat ein riesiges Regenerationspotenzial, sofern der Körper koordiniert benutzt (gesteuert) wird. Schlechte Bewegung (nicht aufeinander abgestimmte Bewegungssteuerung) beeinflusst praktisch alle anatomischen Körperstrukturen auf negative Weise.
Das System der Bewegungssteuerung hat durch dauerhafte Kontrollmechanismen die Fähigkeit zur Selbstorganisation, jedoch nur bis zu einem gewissen Grad. Dann bedarf es eines aktiven Eingriffes von außen, um ein Reparaturprogramm zu „starten“. Ziel des Reparaturprogramms ist die Restauration der Möglichkeiten zur automatischen Störungskompensation. Der Eingriff des Reparaturprogramms ist notwendig, falls die Möglichkeit der spontanen Entropiesenkung des dynamischen Systems durch Selbstorganisation nicht mehr ausreicht.
Die ständige Informationsaufnahme und Kontrolle einer zweckmäßigen und zielgerichteten Handlung (Bewegung) sind Grundeigenschaften des Bewusstseins und des Lebens. Ich bin der Meinung, dass zur bewussten Steuerung der menschlichen Bewegung wohl kaum die Kontrolle darüber gehören kann, wie genau die komplizierten Strukturen im menschlichen Körper einzustellen sind, wo genau welcher Muskel im gegebenen Moment eingeschaltet werden soll und mit welchem Tonus, welcher Winkelgeschwindigkeit usw dies geschieht. Die tatsächliche zweckmäßige Steuerung des Bewegungsapparates muss größtenteils außerhalb der direkten bewussten Steuerung liegen und demnach von unbewussten subkortikalen Gehirnstrukturen ausgehen.
Die bisherigen Grundmodelle, die den Bewegungsapparat als System offener und geschlossener kinematischer Ketten beschreiben, sind völlig ungenügend. Es fehlt hier eine genauere biomechanische und mathematische Beschreibung solcher Ketten.
Eine Vorstellung von der Schwierigkeit der Steuerung des Bewegungsverlaufes kann beispielsweise das Beugen einer Extremität vermitteln, bei dem man einerseits die resultierende Trajektorie, entlang der sich die Extremität bewegen wird, und die die Summe einer ganzen Reihe von Kraftvektoren darstellt, die von einzelnen Muskeln der Extremität generiert werden, und andererseits auch andere Muskeln des Körpers in Betracht ziehen muss, die sich an der automatischen Körperhaltung und weiteren Stereotypen beteiligen. Obwohl die Ergebnisse der Bewegung im Prinzip vorhersehbar sind, hängt ihre konkrete Form maßgeblich von feinen Details der momentanen Lagen aller Körperteile zueinander und auch vom Schwerkraftfeld, also von den Beschleunigungswinkeln und Kraftvektoren ab, was den Anschein von Zufälligkeit erweckt.
Der kybernetische Ansatz nimmt die Geschlossenheit explizit war und studiert die Systeme eher dahingehend, dass sie in Beziehung zu verschiedenen Eigenschaften zugleich geschlossen und offen sein können. Deshalb ist die Beschreibung der Funktionen und Outputs des Bewegungsapparates als geschlossene und gleichzeitig offene kinematische Ketten viel passender.
Man kann sich vorstellen, dass kybernetische Modelle sehr nützliche Vorhersagen generieren können. Als Beispiel kann man zyklische Prozesse anführen, wo die Folge durch Rückkopplung zur Ursache wird, wie z. B. beim Stereotyp des Laufens.
Die Steuerung der menschlichen Bewegung kann nur schwer Informationen darüber enthalten, wie genau die komplizierten Strukturen im menschlichen Körper anzuordnen sind, wo genau welches Gelenk und welcher Muskel sein soll und wie genau ihre Einstellung oder Winkelgeschwindigkeit sein soll, bzw. können solche Informationen nicht direkt in ihrem Kode enthalten sein. Sie muss also eher einfache Regeln enthalten, durch deren Anwendung sich komplizierte Strukturen ergeben. Somit zwingt sich eine gewisse Analogie zu Fraktalen auf.
Formativer und deformativer Einfluss der die Motorik des Bewegungsapparates steuernden Programme
Deformationen im Bewegungsapparat, die wir behandeln wollen, betreffen nicht die durch teratogene Einwirkungen (d. h., durch fehlerhafte Entwicklung vor der Geburt) entstandenen primären Störungen, sondern auch Entwicklungsstörungen nach der Geburt. Dieser Störungstyp ist viel weniger auffällig als teratogene Störungen, und auch die Entwicklung dieser Störungen ist nur allmählich.
Der Bewegungsapparat des menschlichen Körpers macht während der Reifung, vor allem im ersten Lebensjahr, wesentliche Veränderungen durch, im Unterschied zu anderen Säugetieren, bei denen Skelett und Muskelapparat von Jungtieren praktisch nur eine Miniatur des Körpers erwachsener Tiere darstellen.
Der Bewegungsapparat des Kindes ist nach der Geburt hinsichtlich seiner funktionsmäßigen Anpassung an das bipedale Gehen unfertig. Erst nach sehr intensivem Reifen verändern sich die Winkel der Knochen, vor allem der unteren Gliedmaßen, und auch die Krümmung der Wirbelsäule derart, dass das Kind gegen Ende des ersten Lebensjahres selbständig aufstehen und gehen kann.
Dieses Reifen ist Folge der Wirkung von zwei Grundfaktoren, der äußeren Schwerkraft und des inneren Startes eines genetisch vorprogrammierten Motorikprogramms.
Im Laufe des intrauterinen Lebens werden motorische Äußerungen des Kindes bereits in den ersten Wochen nach der Empfängnis verzeichnet, und im letzten Trimester der Schwangerschaft sind komplizierte koordinierte Bewegungen erkennbar. In diesem Zeitraum ist das Kind imstande, in der Gebärmutter Drehbewegungen des ganzen Körpers und koordinierte Greifbewegungen mit Händen und Füßen auszuführen. Alle diese Bewegungsfähigkeiten scheinen nach der Geburt des Kindes schlagartig verschwunden zu sein.
Warum es gesetzmäßig dazu kommt, lässt sich mit dem Übergang vom schwerelosen Zustand in einen unter Gravitationseinwirkung stehenden Raum erklären.
Die Schwerkraft wird zu einem sehr starken Impuls und „schaltet“ bisherige Bewegungsfähigkeiten des Kindes ab. Nach der Geburt ist das Kind unter geläufigen Bedingungen praktisch unfähig, sich koordiniert zu bewegen.
Die Steuerung koordinierter Bewegungen scheint faktisch ausgeschaltet zu sein, und die Kontrolle über die Steuerung des kindlichen Körpers übernehmen primitive Reflexe. Diese Steuerung äußert sich durch sg. „holokinetische“ Motorik. Dies gilt jedoch für geläufige Lebensbedingungen des geborenen Kindes, die man auch als Betriebsbedingungen bezeichnen könnte. Bereits im Jahre 1955 präsentierten jedoch Aršavskij und Krjučkova (s. V. Vojta, 1974)1 mit ihrer Forschung eine ganz andere Sichtweise. Ihre Beobachtungen belegten, dass die Automatik der Haltung und die Bewegung des Neugeborenen global und ganz präzise koordiniert sein können, sofern ihm für eine solche Bewegung optimale Bedingungen geschaffen werden. Diese Erkenntnisse sind bisher in der Entwicklungsneurologie nicht genügend bekannt. Die Behauptung, dass die Bewegung des Neugeborenen „holokinetisch“ ist, wurde durch die Erkenntnisse von Aršavskij und Krjučkova klar widerlegt. Und es waren gerade diese Meinungen, die es V. Vojta ermöglichten, die Grundlagen der Entwicklungsneurologie und Entwicklungskinesiologie auf eine neue Basis zu stellen. S. V.Vojta/Edith Schweizer: Die Entdeckung der idealen Motorik.2
Allmähliches Reifen des motorischen Programms hat formative Wirkung auf den gesamten Bewegungsapparat. Es wird gerade im ersten Lebensjahr festgelegt, wie Skelett und Muskelapparat künftig aussehen werden – sowohl von der morphologischen, als auch von der funktionellen Seite.
Nach der Geburt des Kindes weist der Bewegungsapparat praktisch keine Anzeichen auf, die darauf hinweisen würden, ob seine zukünftige Entwicklung erfolgreich vollendet wird, ob sie mit irgendwelchen Einschränkungen verbunden sein oder morphologisch außerhalb der Norm liegen und mit Funktionseinschränkungen einhergehen wird.
Wie die Geschichte ausgeht, zeigt erst die weitere Entwicklung, insbesondere die Beendigung ihrer Grundetappe in einem Alter von etwa zwölf bis sechzehn Monaten.
Nach der Geburt ist das motorische Programm des Kindes unreif und unfähig, sich den Anforderungen anzupassen, welche die Bewegung unter Schwerkraft an den Bewegungsapparat stellt. Dieses Programm ist im Unterschied zu dem anderer Säugetiere außerordentlich kompliziert. Dieser Grad von Kompliziertheit ergibt sich aus den Ansprüchen, die die Bewegung mittels bipedaler Lokomotion stellt.
Das Programm ist hinsichtlich seiner Größe und somit auch der notwendigen „Berechnungskapazität“ so riesig, dass es in dem vom Gehirn des geborenen Kindes zur Verfügung gestellten Raum nicht genug Platz findet. V. Vojta pflegte zu sagen, dass das menschliche Wesen vorzeitig zur Welt kommt – im Gegensatz zu anderen Säugetieren, die nach ein paar Stunden (bei Huftieren) oder innerhalb einiger Wochen (bei katzenartigen Raubtieren) zu selbstständigem quadrupedalem Gehen fähig sind.
Motorische Programme anderer Säugetiere stellen an die Fähigkeiten des Bewegungsapparates unvergleichbar niedrigere Ansprüche, und zwar sowohl an die grundlegenden Bewegungsstereotypen als auch besonders an die weitere motorische Lernfähigkeit.
1 VOJTA, Václav. Mozkové hybné poruchy v kojeneckém věku. Praha: Grada Avicenum, 1993. ISBN 80-85424-98-3.
2 VOJTA Václav, SCHWEITZER, Edith: Die Entdeckung der idealen Motorik. München: Pflaum Verlag, 2009. ISBN 978-3-7905-0966-3