Für gute Körperhaltung eines Erwachsenen ist es notwendig, dass die Entwicklung des ersten Jahres völlig ideal verläuft, also nach der „ursprünglichen Veranlagung“ bzw. dem genetischen Plan. Ist die Entwicklung in diesem ausschlaggebenden Zeitraum aus irgendeinem Grund gestört, kommt es sehr wahrscheinlich in der Jugend und im Erwachsenenalter zu Störungen von Statik und Dynamik des Bewegungsapparates. Nach Abschluss der Entwicklung zwischen dem fünfzehnten und siebzehnten Monat wird klar, inwieweit der Bewegungsapparat imstande ist, Belastung zu ertragen, bzw. welche Störungen man in Zukunft erwarten kann.
Kommt es zur Störung der motorischen Entwicklung im ersten Lebensjahr, führen Entwicklung und Wachstum in der Jugend zur weiteren Entfaltung dieser Störungen. Die folgende Pflege erfolgt vor allem mittels Rehabilitation und orthopädischer Behandlung. Derartige Fälle gibt es in der Bevölkerung zum Glück nur wenige (höchstens 3-5 %). Viel häufiger jedoch treten leichtere Entwicklungsstörungen auf, die nicht so klar erkennbar sind oder wegen ihrer anscheinenden Geringfügigkeit für unbedeutend gehalten werden, sodass ihnen keine genügende therapeutische Aufmerksamkeit gewidmet wird. Folge ist leider ein nicht ganz perfektes Ergebnis der Entwicklung des Bewegungsapparates und auch die nachfolgende Petrifizierung der Störungen. Störungen des Bewegungsapparates machen sich sowohl an der „Hardware“, d. h., am myoskelettalen Apparat, als auch an der „Software“, also an der Steuerung der Körperdynamik, bemerkbar und stellen Störungen des ZNS dar.
Kasuistik – hyperlordotische Haltung und ventrale Stellung des Beckens (Risiko der Entstehung von Skoliose auch im Falle einer geringfügigen Abweichung der Beckenachsen)
Illustration der Entwicklungskomplikationen und mit Wirbelsäulenskoliose verbundener Fragen (Nutzung technischer Hilfsmittel wie rutschsichere Unterlage und elastische Bänder)
Die Patientin wurde wegen schlechter Körperhaltung von ihrem Orthopäden an uns verwiesen. Das magere Mädchen kommt in Begleitung seiner Mutter, die die Probleme ihrer Tochter als „unrichtiges Stehen“ beschreibt. Sie erklärt, dass sie bereits viele Jahre versucht, ihrer Tochter zuzureden, dass sie sich schön hinstellt, da sie sonst in der Zukunft an Rückenschmerzen oder Skoliose leiden würde. Dieses Problem zieht sich bereits seit der Zeit hin, als das Mädchen zu laufen begann und ist jetzt eher schlimmer. Bei der Seitenansicht mit Senklot sieht man es ganz klar. Sie besuchte mit der Tochter verschiedene Rehabilitationszentren, jedoch ohne zufriedenstellendes Ergebnis. Die Tochter ist motorisch geschickt und zeigt sehr gute Leistungen in der Schule. Am meisten ist die Mutter wegen der möglichen Entstehung einer Skoliose beunruhigt. Beide Eltern der Patientin sind groß und schlank.
Problembeschreibung (klinischer Befund)
Die Anamnese der Patientin im ersten Lebensjahr brachte nichts Bemerkenswertes. Erst im Verlauf des zweiten Lebensjahres zeigte sich eine Störung im Sinne der hyperlordotischen Körperhaltung im Lendenwirbelsäulenbereich, die bis zur Mitte der Brustwirbelsäule reichte. Der gesamte Rest der Brustwirbelsäule war praktisch flach ohne kyphotische Wölbung. Die Bauchwand war im Zusammenhang mit der ventralen Beckenflexion gewölbt und teilweise entspannt. Die Schultergeflechte prominierten nach vorne. Weder die Kopfhaltung noch die Haltung oder Konfiguration der unteren Gliedmaßen zeigten irgendwelche klinischen Anomalien.
Facherklärung des Problems
Vom Gesichtspunkt der Entwicklungskinesiologie ist diese flektierte Beckenhaltung sehr wahrscheinlich Folge des Überdauerns der sog. „Neugeborenen-Beckenhaltung“. Es geht um die Beckenhaltung im ersten Flexionszeitraum. Diese verhältnismäßig kurze Etappe ist im Rahmen der Entwicklungskinesiologie und auch der folgenden Entwicklung der Beckenhaltung sehr wichtig. Die Flexionshaltung des Beckens bleibt im Anschluss an die intrauterine Zeit während der ersten drei Monate nach der Geburt bestehen (s. Kapitel Kinesiologie des intrauterinen Lebens). Die Aufgabe dieses Haltungstyps und der Beginn der ersten Extensionshaltung nach dem dritten Monat gewährleistet die zukünftige normale Beckenhaltung und die damit zusammenhängende Konfiguration der Lendenlordosekurve, einschl. der normalen Parameter der Winkel und der Geometrie des Femurhalses. Das Überdauern der Flexionsstellung des Beckens macht sich ungünstig durch Entstehung einer Hyperlordose der Lendenwirbelsäule bemerkbar, und gleichzeitig kommt es zur ungenügenden Entfaltung der Brustkyphose. Eine ungenügende Entfaltung der Brustkyphose ist die Haupteinschränkung, der größten Einschränkung für die zukünftige normale Entfaltung des Brustkorbes und der damit funktionsmäßig zusammenhängenden Atemmechanik. Auf der anderen Seite manifestiert sich die ventrale Beckenflexion als fehlerhafte Entfaltung der Hüftgelenke als Ganzes, denn sie schränkt die richtige Zentrierung des Hüftgelenkkopfes gegenüber dem Acetabulum ein. Eine weitere schwerwiegende Entwicklungskomplikation ist die Entstehung eines symmetrischen Ungleichgewichtes, und zwar sowohl lateral (Hüftgelenke sind höhenmäßig anders gestellt), als auch im Sinne der axialen Rotation in der Medialachse des Körpers. Dies führt zu einer Ausbiegung der transversalen Beckenachse gegenüber der Brustkorbachse. Dieser Typ von Desaxation und lateraler Neigung des Beckens ist höchstwahrscheinlich Grundlage und Ursache der Entstehung der skoliotischen Wirbelsäulenentwicklung. Die Skolioseentfaltung wird deutlich durch die in der Folge entstehende relative (funktionsmäßige) Verkürzung einer unteren Extremität beschleunigt.
Illustration der Lösung
Die Patientin und ihre Mutter kamen regelmäßig zu therapeutischen Kontrollen zur Sprechstunde, anfangs zweimal monatlich. Nach einem halben Jahr gelang es, die therapeutische Vorgehensweise zu optimieren und die Besuche auf eine Frequenz von einmal monatlich einzustellen. Nach Belehrung der Mutter gab diese ihr Bestreben auf, ihrer Tochter gut zuzureden, denn dies ist völlig unwirksam. Am Anfang der Therapie zeigte sich eine Komplikation beim Einsatz der Gleichgewichtsscheiben, die die Patientin schlecht vertrug. Sie fühlte eine erhebliche Lageunsicherheit, die, wie es in den meisten Fällen geschieht, nicht verschwand. Eine Lösung fand sich im Einsatz von rutschsicherer Unterlagen, die die Adhäsion der Körperstützflächen der Patientin verbesserten und somit zu ihrem Sicherheitsgefühl beitrugen. Zur Erhöhung der Stimulierungsintensität zeigten sich elastische Gummibänder als geeignet. Die Therapie führte zur allmählichen Verbesserung der Körperhaltungsautomatik, die hyperlordotische Durchbiegung der Lendenwirbelsäule nahm ab, sodass sich der Brustteil der Wirbelsäule auswölbte. Das Kippen des Beckens normalisierte sich praktisch, und somit kehrte auch die Bauchwand in die physiologische Stellung zurück. Auch die beiden Schultergeflechte nahmen ihre physiologische Stellung in der Körperachse ein.
Erklärung der Lösung
Die Normalisierung des Zustandes der gestörten Körperhaltungsautomatik machte bei dieser Patientin eine ihre Lagenunsicherheit respektierende Vorgehensweise erforderlich. Dank Entdeckung einer Methode, den Reflex auf feine und ausgewogene Art und Weise durchzuführen, konnte der Stimulierungsverlauf erheblich intensiviert werden. Dies ermöglichte die koordinierte Einbindung der Muskelketten, also sowohl der geraden als auch der schrägen Muskulatur. Angesichts des asthenischen Habitus der Patientin und ihrer niedrigen Toleranz gegenüber der Labilisierung der Stützflächen und der Gliedmaßenschwerpunkte zeigte sich der Einsatz hoch adhäsiver Unterlagen als optimal. Gleichermaßen geeignet war der Einsatz elastischer Bänder. Bei diesen kann man allmählich den Zug entgegen der durchgeführten Bewegung erhöhen, wobei sich gleichzeitig die Stabilität erhöht. Deshalb haben wir lieber diese elastischen Bänder statt der Gewichte eingesetzt, die bei den meisten Patienten zum Einsatz kommen. Durch Gewichte an Gliedmaßen verschieben sich wesentlich die Gliedmaßenschwerpunkte als solche. Dadurch kommt es zum allmählichen Anstieg der Stimulierung, und gleichzeitig erhöht sich die Reflexanstrengung zur Gleichgewichtsnormalisierung. Die Gesamtentwicklung des Bewegungsapparates der Patientin hat sich praktisch normalisiert, und es ist sehr unwahrscheinlich, dass es in der weiteren Entwicklung zu einer Wirbelsäulenskoliose kommt.
Spezifischer Blick auf das Problem der Aufrechterhaltung der ventralen Beckenstellung in der Kindheit und während der Adoleszenz
Die Skelettentwicklung des Bewegungsapparats ist direkt von Bedingungen abhängig, die man ihm im ersten Lebensjahr schafft. Ein gut absolvierter Grundabschnitt der psychomotorischen Entwicklung ist wahrscheinlich das Wichtigste für eine gute Entwicklung des Bewegungsapparates. Damit hängt selbstverständlich auch die Qualität und Vielfältigkeit der zukünftigen Bewegung selbst zusammen. Das Überdauern der ventralen Beckenflexion ist der wahrscheinlich größte Risikofaktor bezüglich einer künftig gestörten Körperhaltung. Wenn die Lendenwirbel nicht in der physiologischen Stellung sind, werden sie ihre grundlegende Funktion, nämlich die Übertragung von Kräften zwischen Brustkorb und Becken (mittels des oberen und unteren Bewegungsdifferenzials, s. Kapitel 3D Biomechanik) nur schwierig ausüben. Diese gestörte Haltung steht höchstwahrscheinlich hinter einer Reihe von Funktionsstörungen der Lendenwirbelsäule, einschl. Bandscheibenvorfällen in diesem Wirbelsäulenteil. Das Bestreben, mit einem therapeutischen, auf willkürliche analytische Kraft- und Stretching-Übungen partieller Muskelgruppen ausgerichteten Ansatz eine Normalisierung der Beckenhaltungsautomatik zurück zur physiologischen Stellung zu erreichen, hat wenig Hoffnung auf langzeitigen Erfolg. Die Ursache dieser gestörten Haltung beruht auf einer Störung des grundlegenden Bewegungsprogramms, das sich im wichtigen Zeitraum des ersten Jahres geformt hat.
In diesen Entwicklungszeitraum müssen wir auch therapeutisch „zurückkehren“, um eine wirkliche Besserung zu erzielen. Diese Rückkehr ist praktisch nur über Reflexstimulation und Korrektur des Grundprogramms der Motorik möglich. Man muss also das, was aus welchem Grund auch immer in der Entwicklung des ersten Jahres nicht gelungen ist, korrigieren. Diese Korrektur besteht in zwei grundlegenden Maßnahmen, die in der Praxis gleichzeitig umgesetzt werden. Auf dem Reflexweg wird das Korrekturprogramm mit dem Ziel der wiederholten Restrukturierung des Grundprogramms der Motorik stimuliert (s. Kapitel Grundprogramme der Motorik), und gemeinsam mit dieser Programmkorrektur kommt es auch zur Rekonstruktion des Myoskelettsystems als solchem. Erst wenn es zur Normalisierung auf dem Niveau der Programmsteuerung der Motorik kommt, kann man auch einen Effekt hinsichtlich der zukünftig guten und problemlosen Funktion des Bewegungsapparates erwarten. Erst dann ist auch der Bewegungsapparat imstande, die Belastung langfristig mit physiologischer Reaktion und angemessener Regenerationszeit zu ertragen.
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Störungen des Myoskeletts machen sich sowohl in der schlechten Körperhaltung auf allen Ebenen als auch in der Steuerung der grundlegenden Bewegungsstereotypen bemerkbar:
Woran die Störungen erkennbar sind:
- Senkung der Fußgewölbe, Achsendeviation von Fersen- und Tarsalknochen und Zehen
- Deviation der Achsen der unteren Gliedmaßen
- fehlerhafte Beckenstellung
- gestörte Haltung der Wirbelsäulenachsen
- gestörte Konfiguration des Brustkorbes
- pathologische Stellung der Schultergeflechte
- abnormale Achsen der oberen Gliedmaßen, vor allem der Hand
- gestörte Kopfhaltung
- Störung der Unterkieferstellung
- abnormale Achsen der Augenstellung
Allgemeine Kinesiologie der Erwachsenen
Eine Störung der Kinesiologie von Erwachsenen im Sinne einer SW-Störung ist am meisten an der Pathologie folgender Stereotypen zu sehen:
- Gangstereotyp
- Greifstereotyp
- Atemstereotyp
- Bewegungsstereotypen des orofazialen Bereiches – Saug-, Schluck-, Sprechstereotyp