11 Bewegung des Menschen hinsichtlich Geometrie, Mechanik und Biomechanik und der daran anknüpfenden Kinesiologie

Darstellung der physiologisch idealen Körperhaltung beim Stehen

Biomechanik und Kinesiologie der Beweglichkeit – aus physiologischer Sicht

Körperhaltungsautomatik, Aufrichtungs- und Gleichgewichtsreflexe

Für alle Muster der Bewegung nach vorne, die sich in der menschlichen motorischen Ontogenese entwickeln, wie Umdrehen, Kriechen, Krabbeln auf allen vieren und freies bipedales Laufen, gelten gewisse Gesetzmäßigkeiten.

Die Motorik des Bewegungsapparates enthält drei untrennbare Komponenten: Aufrichtungs- und Gleichgewichtsmechanismen, die eine Aufrichtung des Rumpfes entgegen der Schwerkraft und eine Veränderung des Rumpfschwerpunktes, eine ausgewogene automatische Steuerung der Körperlage (posturale Reaktivität) und die phasische Beweglichkeit der Muskeln mit gegebener Winkelbewegung zwischen Segmenten der Gliedmaßen und dem Achsorgan (Kopf und Wirbelsäule) ermöglichen, wobei der Winkelbereich bei einer Bewegung nach vorne bei jeder Lokomotionsweise genau festgelegt ist.

Posturale Aktivität, zu der Aufrichtungs- und Gleichgewichtsreflexe sowie Haltungsautomatik gehören, ist eine genetisch gegebene Fähigkeit zur koordinierten Körperhaltung, die sich bereits von Geburt an beobachten lässt.

Siehe V. Vojta 1994:1 „Diese Fähigkeit wurde zum ersten Mal von Aršavskij und Krjučkova (1955, in Kolárova, 1968) beschrieben, die bewiesen haben, dass sich ein Neugeborener „fließend“ und koordiniert umdrehen kann, wenn er in Rückenlage in einem dunklen Raum von einem sich langsam bewegenden Licht stimuliert wird. Dann dreht er sich in Richtung des Lichtes. Er verfolgt den Lichtstrahl, und sein Körper wechselt ohne globale Bewegung fließend von einer asymmetrischen Körperlage in die andere. Es ist eine Spiegelungs- und reziproke Tätigkeit. Ohne davon zu wissen, haben Aršavskij und Krjučkova bewiesen, dass ein Neugeborener die Fähigkeit zur koordinierten Steuerung der Körperhaltung hat. Das neugeborene Kind verfügt über eine posturale Aktivität. Die Autoren haben durch diesen Test bewiesen, dass der motorische Verlauf des Umdrehens von der Rücken- in die Seitenlage keine erlernte Bewegung ist. Sie sprachen jedoch nur von der optischen Orientierung des Neugeborenen.“

Wird beim Neugeborenen die sog. „holokinetische Beweglichkeit“ beobachtet, handelt es sich um die Antwort des unreifen ZNS des Neugeborenen auf einen unangemessenen Impuls, also nicht um seine Unfähigkeit, die posturale Aktivität zu steuern.

Die Entwicklung der Körperhaltungsautomatik, der Aufrichtungs- und Gleichgewichtsmechanismen im 1. Lebensjahr nennt man auch posturale Ontogenese und ihre Verfolgung hat grundlegende Bedeutung vor allem nach der Geburt, denn von diesem Augenblick an muss das Kind mit der Schwerkraft leben lernen.

Bereits vom Augenblick der Geburt an kommt es zum Start dieser angeborenen Bewegungsprogramme, die es weiteren Bewegungsmustern (Stereotypen) ermöglichen, mit der Erdschwerkraft fertig zu werden.

Ziel der Entwicklungsontogenese ist die Bildung der Fähigkeit des ZNS, eine angemessene aufgerichtete Haltung und das Gleichgewicht für die körperliche Bewegung von Stelle zu Stelle zu gewähren und zu koordinieren und sich variabel verschiedenen Situationen anzupassen. So wird dem genetisch gegebenen Grundoperationsprogramm für Bewegung ermöglicht, sich fest in die Verbindungen des neuronalen Netzes der ZNS einzubinden.

Die Formeln der Körperhaltung, der Aufrichtung und der Fortbewegung kann man als präformierte Bewegungsmuster bezeichnen. Dank diesen lernt das Kind, die Umgebung kennenzulernen und kann sich in der Folge mit dieser Voraussetzung die speziellen Fertigkeiten der feinen und groben Motorik aneignen.

Körperhaltung und Bewegung sind gleichzeitig voneinander abhängig. Jede Veränderung der Körperlage, egal wie klein, erfordert die Anpassung der Haltung des Körpers an sein Gleichgewicht.

Vojtas Prinzip beschreibt die normale gesetzmäßige Entwicklung der Bewegung und der Körperhaltung (posturale Entwicklung) beim Kind im 1. Lebensjahr und nutzt sie in der Folge zur Diagnostik und Behandlung.

1  VOJTA, Václav. Mozkové hybné poruchy v kojeneckém věku. Praha: Grada Avicenum, 1993. ISBN 80-85424-98-3

Darstellung der verschiedenen Typen pathologischer Wirbelsäulenkrümmung

Die normale Entwicklung des Skeletts, des Bindegewebeapparats und des Bindegewebes ist, genau wie die Entwicklung des Muskelapparats, direkt von der Fähigkeit des ZNS abhängig, das Grundoperationsprogramm für die Bewegung zu entwickeln und zu etablieren. Ohne diese „Softwarebasis“ ist die weitere Entwicklung der „Hardware“ mehr oder weniger geschädigt, und zwar mehr oder weniger reversibel.

Im Rahmen der posturalen Ontogenese muss man auch den Stand der mentalen Entwicklung des Kindes bzw. das Niveau der motorischen Intelligenz in Erwägung ziehen. Die ist direkt für die Fähigkeit des Kindes verantwortlich, Interesse an der Außenwelt zu zeigen und angemessen auf Stimuli zu reagieren; man spricht auch von Ideomotorik oder motorischer Ideation.

Die Ideomotorik ist das grundlegende Mittel zur Einschaltung der gesamten Muskulatur in unzähligen Variationen und ist an den aktuellen Zustand der posturalen Steuerung gebunden.

Zur Funktionsdifferenzierung (Antigravitationsfunktion, phasische Differenzierung) kommt es bei allen Muskeln, die sich im Rahmen der posturalen Ontogenese an der motorischen Entwicklung beteiligen, was für die Mehrheit der quergestreiften Muskulatur gilt.

Als Beispiel für die funktionsmäßige Differenzierung von Muskeln kann ein Kind dienen, das in der Bauchlage den Kopf hebt und ihn in Richtung des Objekts seines Interesses dreht. Voraussetzung für koordiniertes Drehen des Kopfes ist normale posturale Aktivität, d. h., automatische Steuerung der Körperlage. Diese wird im Bereich des Halses und des Nackens von Muskelgruppen so gewährleistet, dass der Kopf bei gestrecktem Nacken gehoben wird, woran sich auf koordinierte Weise sowohl dorsale als auch ventrale Gruppen beteiligen (einschl. der Zungenbeinmuskeln, die in ihrer phasischen Funktion zum Schlucken dienen). Erst unter der Voraussetzung eines solchen koordinierten Kopfanhebens sind die Halswirbel mit günstigen biomechanischen Parametern eingestellt (extendiert und zentriert) und es kann zur phasischen Bewegung, d. h., dem freien Drehen des Kopfes in beide Richtungen, kommen. Bestandteil des gesamten Prozesses ist eine automatisch eingestellte und abgesicherte Stützgrundlage.

Pathologische Biomechanik und Kinesiologie der Beweglichkeit

Pathologische Biomechanik und Kinesiologie der Beweglichkeit umfassen auch Ersatzprogramme der Körperhaltung, die praktisch in alle Motorikbereiche eingreifen.

Darstellung einer pathologischen Brustkorbdeformation einschließlich Einsenkung des Brustbeins

FUNKTIONSMÄSSIG umfassen sie:

  • Ersatz-Aufrichtungs- und Gleichgewichtsreflexe
  • Ersatzkörperhaltungsautomatik, Ersatzaufrichtungs- und Gleichgewichtsreflexe
  • pathologisch veränderte Grundstereotypen der Beweglichkeit
  1. den Schrittmechanismus
  2. den Greifmechanismus
  3. den Atemstereotyp
  4. Schluck- und weitere Stereotypen

Aus Sicht der MORPHOLOGIE führen Sie zur Störung:

  • der Ontogenese der Drehrichtungen an Gliedmaßen
  • der Ontogenese der Achsenkrümmung des Achsorganes
  • der Ontogenese zur Formierung des Brustkorbes
  • der Ontogenese der Ausbildung der tragenden Fußgewölbe und der Zehenstellung
  • der Ontogenese der Entwicklung der Hüftgelenke
  • der Ontogenese der Entwicklung des Schultergeflechts, des Armes und der Hand
  • der Ontogenese der Entwicklung der Beckenstellung
  • der Ontogenese der Entwicklung der unteren Gliedmaßen und der Füße
  • der Ontogenese der Entwicklung der Kopf- und Unterkieferstellung

Spuren für die Entwicklung einer Reihe pathologischer Störungen des Bewegungsapparates bei Kindern und Erwachsenen lassen sich bereits ab der Zeit der frühen Ontogenese der Entwicklung des ersten Lebensjahres entdecken. Charakteristisch für eine solche Schädigung ist eine fehlerhafte Körperhaltung, die sich durch eine ungenügende bis fehlende Aufrichtungsfunktion äußert. Je schwerer die Störung, desto stärker äußern sich primitive Körperhaltungsschablonen und entfalten sich pathologische Ersatzmuster.

Die in der posturalen Aufrichtungsontogenese entstehende Disharmonie projiziert sich immer in die gezielte phasische Motorik, und zwar sowohl in die grobe, als auch in die feine. Aus Sicht der ZNS-Steuerung sind Störungen mit Dysfunktionscharakter, wie z. B. leichte Gehirndysfunktionen, spezifische Lernstörungen (Dysgrafie, Dyslexie und weitere) Störungen der zentralen Koordinierung der hochspezifischen feinen Motorik

Darstellung einer pathologischen Haltung der Brust – Kielbrust

Darstellung einer pathologischen Fußstellung mit eingefallenem Quer- und Längsgewölbe und Hammerzehen

Darstellung einer pathologischen Fußstellung mit eingefallenem Längsgewölbe und Hammerform des 2. Zehs

Im gewissen Sinne könnte man davon sprechen, dass sich diese Koordinationsstörungen in der Folge auch bei intellektuellen Aktivitäten äußern. Zur hoch spezifizierten Motorik können wir die Tätigkeit der Augenbewegungsmuskeln, des Phonierapparates und der kleinen Handmuskeln zählen.

Für die normale Aktivität dieser Muskelgruppen und der von ihnen ausgeführten Tätigkeiten ist eine standardmäßig funktionierende grobe Motorik einschl. der Körperhaltungsautomatik, der Aufrichtungs- und Gleichgewichtsreflexe notwendig.

Bei Kindern, die an o. a. spezifischen Störungen leiden, stoßen wir obligatorisch bei der Untersuchung des Bewegungsapparates auf eine Schädigung der zentralen Koordinierung, die sich durch fehlerhafte Körperhaltung und gestörte Grundstereotypen des Laufens, des Greifens und des Atmens manifestieren.

Blockaden, die die Entwicklung normaler Aufrichtungsmechanismen mit Ausgleichsreaktionen behindern, sind für eine Reihe von Störungen am Skelett des Bewegungsapparates und auch für Störungen der phasischen Beweglichkeit verantwortlich, und zwar sowohl der Grundbewegungsstereotypen als auch der Anwenderprogramme der groben und feinen Motorik. Sie sind sogar die Ursache von Störungen, die auf den ersten Blick weniger mit der Beweglichkeit in Zusammenhang gebracht werden, wie z. B. spezifische Lernstörungen.

Bei der Beurteilung der Entfaltung einer ganzen Reihe von Störungen muss man davon ausgehen, dass das existierende genetische Programm bereit ist, sich an der posturalen Ontogenese zu beteiligen, Blockaden verschiedenster Ätiologie es jedoch teilweise oder gänzlich daran hindern, für die zentralen neuronalen Netze erreichbar zu sein. Folgen sind die fehlerhafte Funktion der eigentlichen Motorik und eine Auslenkung der Skelettentwicklung.

Darstellung einer pathologischen Haltung der Brust – Kielbrust

Das von einer zentralen Koordinationsstörung betroffene Kind kann nicht angemessen auf Impulse aus seiner Umgebung reagieren, die unter normalen Umständen seine Neugier und Aufmerksamkeit wecken würden, denn sein ZNS kann die notwendige Motorik nicht bereitstellen. Ist die Funktion seiner posturalen und folglich auch der phasischen Beweglichkeit gestört, besteht die Gefahr, dass es in seinen Ersatzstereotyp-Bewegungsmustern bleibt, die seiner posturalen Entwicklung schaden.

Die Trophik und Entfaltung der Gliedmaßen ist direkt proportional von der Körperhaltung bzw. der normalen Funktion der Programme der posturalen Ontogenese abhängig. Diese Tatsache ist z. B. bei den bereits erwähnten Syndromen der infantilen Di- und Hemiparese, wo es oft zur Hypoplasie der paretischen Gliedmaßen kommt, sehr deutlich. Hypoplasie tritt auch oft bei traumatischer Nachgeburtsparese des Plexus brachialis auf.

Funktionelle und morphologische Störungen sind miteinander verkettet. Deshalb macht sich z. B. eine Störung der Beckenhaltungsautomatik im Rahmen der gesamten Automatik der Körperhaltung durch gestörte Haltung der unteren Gliedmaßen, der Schultergeflechte und weiterer Körperteile bemerkbar.

Animation – Verkettung der Gestörten Automatik


Řetězení porušené automatiky


Řetězení porušené automatiky

1 VOJTA, Václav. Mozkové hybné poruchy v kojeneckém věku. Praha: Grada Avicenum, 1993. ISBN 80-85424-98-3.