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Geschichte der Vojta-Methodik
Der Satz „Ich habe es nicht erfunden, nur gefunden“, mit dem Dr. Václav Vojta seine Kurse zu eröffnen pflegte, ist zu einem geflügelten Wort geworden.
Die Vojta-Methodik, oft auch „Reflexlokomotion“ genannt, ist ein von Dr. Václav Vojta gemeinsam mit seinen Kollegen und Schülern entwickeltes therapeutisches System. Die Anfänge der Methode reichen bis zum Ende der 50er und dem Anfang der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts zurück. In der damaligen sozialistischen Tschechoslowakei begann sich an der neurologischen Klinik des berühmten Akademikers Karel Hener im Verborgenen eine ganz neue Einstellung zur Physiotherapie zu entwickeln. Die ersten Patienten, bei denen die neue Methode angewandt wurde, waren von Kinderlähmung betroffene Kinder. Und auf einmal wurde die Therapie dank rechtzeitiger Diagnostizierung auch für Kinder als geeignet angesehen, bei denen Störungen der motorischen Entwicklung drohten.
Die Grundlagen der Methode basieren auf rationellen und logischen Prinzipien der Entwicklungskinesiologie.
Dr. Vojta hat wiederholt in bescheidener Weise darauf aufmerksam gemacht, dass er diese Grundsätze „nicht erfunden“, sondern „nur gefunden“ hat. Eine Reihe anderer Autoren hatte sie sogar bereits vor Dr. Vojta entdeckt. Sein unbestrittenes Verdienst bleibt jedoch die konsequente Verbindung von Theorie und Praxis, dank derer diese theoretischen Grundsätze ins breitere Bewusstsein der Fachöffentlichkeit gelangten und die Denkweise weiterer Experten deutlich beeinflussten.
Dr. V. Vojta hat bei seinen Beobachtungen bereits Mitte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts die Möglichkeit entdeckt, Muskelreflexe hervorzurufen, die sich im ganzen Körper ausbreiten. Er nannte sie Globalreflexe, und er begann, sie zur Behandlung von zerebral gelähmten Kindern einzusetzen. Die als „Reflexlokomotion“ oder Vojta-Methodik bekannte Methode verbreitete sich in eine Reihe von Ländern, und ihr Einsatz erwies sich bei einer ganzen Reihe weiterer Diagnosen als erfolgreich.
Theoretische Grundlagen der Vojta-Methodik (VM)
Eine Reflexstimulation, die im Rahmen der VM eine Bewegungsantwort hervorruft, ist hinsichtlich des psychologischen Erlebens eines Neugeborenen und oder Säuglings eine völlig neue Wahrnehmung. Die Stimulierung aktiver Zonen hat eine Reflexbewegungsantwort zur Folge. Das Kind beginnt, sehr intensiv zu erleben, dass mit seinem Körper etwas geschieht, was es nicht mit seinem Willen beeinflussen kann. Beobachtungen, die ich sowohl bei der eigentlichen Stimulation als auch bei der Analyse von Videoaufzeichnungen therapeutischer Intervention gemacht habe, zeigen klar, dass die anfängliche Verwunderung des Kindes sehr schnell von Unbehagen ersetzt wurde. Dieses macht sich durch Weinen oder sogar Schreien des Kindes oder dadurch bemerkbar, dass es versucht, der Situation auszuweichen, da sie für das Kind recht unangenehm ist, und zwar sowohl von psychischer, physischer, aber auch psychosozialer Seite.
Im ersten Jahr nutzen Kinder sog. „omnipotente“ Kommunikationsmittel. Diesen Typ der Kommunikation zwischen dem Säugling und seinen Eltern behandelt sehr ausführlich Prof. Papoušek.1
In diesem Zeitraum kommuniziert das Kind mittels einer sehr vielfältigen Skala nonverbaler Äußerungen, Bewegungen des ganzen Körpers und der Hände, Berührungen, Bewegungen des Gesichtes, Augenkontakt und, umgekehrt, Vermeidung von Augenkontakt, meistens jedoch mittels Mimik und Gestik. Diese Art der Kommunikation ist für das Kind praktisch nur direktiv und hat die Befriedigung seiner aktuellen Bedürfnisse zum Ziel. Die Fähigkeit, die Kommunikationsweise des Säuglings zu verstehen, ist Teil der biologischen Veranlagung der Personen, die sich um ihn kümmern und wird mit dem Erwachsenwerden automatisch aktiviert. Sie ermöglicht den Eltern und den das Kind pflegenden Personen, praktisch und schnell die Bedürfnisse des Säuglings zu verstehen und ihr Verhalten auf deren Befriedigung auszurichten. Die Reflexstimulierungstherapie führt jedoch so, wie sie bisher in der klassischen VM durchgeführt wurde, zur Frustration des Säuglings wegen der „Nichtrespektierung“ seiner omnipotenten Kommunikationsmuster. Das Kind eröffnet, steuert und beendet in diesem Alter tatsächlich die Kommunikation mithilfe seiner angeborenen, nonverbalen Kommunikationsmuster.
Ich halte die derzeitige Durchführungsweise der Therapie mit der Vojta-Methode für recht steif, ohne genügende und vor allem verständliche Kommunikation mit dem Kind. Bekommt das Kind auf eine ihm verständliche Art und Weise keine Erklärung, dass ihm bei der VM nichts Böses geschieht und dass die anwesenden Eltern alles unter Kontrolle haben, kommt es zu seiner Verunsicherung und Verängstigung. Die Folge ist Frustration, die sich in Unruhe, Weinen oder Schreien ausdrückt. Gerade mittels Weinen fordert es eine Erklärung und Versicherung, dass seine Eltern die Situation unter Kontrolle haben. Mit dem Kind muss man beim Üben fortwährend kommunizieren, auch wenn es gerade keine Lust hat, zu üben.
Oft geschieht es, dass weder die Eltern noch das Kind Lust aufs Üben haben. Es ist der Therapie sehr zuträglich, wenn sich die Eltern aktiv auf die Schaffung einer positiven und ruhigen Atmosphäre vorbereiten. Sie sollten sich mit einem genügend großen Repertoire an Kinderreimen, Liedern, Gedichten ausstatten. Als sehr nützlich hat sich die Beteiligung einer weiteren Person, z. B. eines Geschwisters, zur Zerstreuung und Ablenkung des Kindes von der eigentlichen Therapie bewährt. Auch die Regelmäßigkeit des Übens hilft dem Kind, sich an die Belastung zu gewöhnen, und dies sowohl psychisch, physisch als auch in Bezug auf seinen Biorhythmus.
Ein weiteres nachteiliges Ergebnis der die psychischen Bedürfnisse des Kindes vernachlässigenden Herangehensweise sind sich wiederholende frustrierende Situationen, die beim Kind eine aversive Reaktion hervorrufen und diese allmählich verfestigen. Diese Art der Reaktion beruht auf dem Prinzip der negativen Konditionierung, bei der die unerwünschte Äußerung mit einem unangenehmen Erlebnis verbunden ist. Dann liefert schon allein die Vorbereitung zum Üben einen Impuls zum Weinen und zu mangelnder Bereitschaft des Kindes, sich der Therapie zu unterziehen. Ähnliche Gefühle zeigen sich dann natürlich sowohl beim Elternteil, der zusammen mit dem Kind an der Therapie teilnimmt, als auch in seiner Umgebung.
Die die inadäquate psychische Antwort des Kindes auslösende Stimulation ist gleichzeitig Quelle einer motorischen Unruhe seines Körpers. Sie macht sich durch Bemühungen des Kindes bemerkbar, dieser unangenehmen Situation zu entkommen. Dank dieser Fluchtreaktionen ist die eigentliche Therapie noch erheblich schwieriger, und das Kind lässt sich nur durch unangemessene Druckerhöhung auf die Reflexzonen in der Reflexlage halten. Dieser therapeutische Druck, der bei einem ruhigen Säugling nur schwach ist, muss bei einem Kind im erregten Zustand recht groß sein. Aufgrund des Bemühens, das Kind in der richtigen Lage zu halten und gleichzeitig den Verlauf des Reflexes zu kontrollieren, geht die Kontrolle des Drucks auf die Zonen verloren. Wegen des sich erhöhenden Drucks auf die Reflexzonen wird neben der Auslösung einer physiologischen Reflexbewegungsantwort auch eine unangenehme bis schmerzhafte Wahrnehmung provoziert. Das Kind bemüht sich wegen dieses unangenehmen Gefühls umso mehr, zu entkommen, was wiederum eine Erhöhung der Bemühungen der Eltern zu Folge hat, es in der therapeutischen Lage zu halten, und zwar wieder um den Preis einer Druckerhöhung. Dieser Ablauf wiederholt sich und nimmt mit dem allmählichen Wachstum des Kindes an Intensität zu, da es stärker wird und auch dank der Therapie beginnt, seinen Körper geschickter zu benutzen.
Hier ist es notwendig, einen neurophysiologischen Mechanismus zu erklären, der in diesem Zeitraum wirkt, und zwar die Tatsache, dass das Kind im ersten Lebensjahr über kein fertiges Motorik-Grundprogramm verfügt und nicht imstande ist, sich der Reflexstimulation zu widersetzen. Der Reflex ist in diesem Zeitraum stärker als das Kind. Die Therapie wird somit für das Kind, seine Eltern und ihm nahestehende Personen zu einer Quelle beträchtlicher Frustration, und zwar über Monate hinweg.
Im Internet kann man viele schriftliche Belege und Videos finden, die diesen freudlosen Zustand sehr gut dokumentieren.
1 PAPOUŠEK, Mechthild. Regulationsstörungen der frühen Kindheit. Bern: Verlag Hans Huber, 2004, ISBN 3-456-84036-5
Durchführung der Vojta-Methodik Psychologische Spezifika bei Kindern im Kleinkind- und Vorschulalter
Video – Kind bei der Klassischen VM
Bei Kindern im Kleinkind- und Vorschulalter ist die Durchführung der Vojta-Therapie auf klassische Art und Weise recht kompliziert. In diesem Alter sind die motorischen Grundprogramme fertig und die durch Stimulierung aktiver Zonen hervorgerufene Reflexlokomotion hat keine so große „Macht“ über das Kind wie im Säuglingsalter. Vom Kleinkindalter an ist das Kind bereits imstande, durch seine willkürliche motorische Aktivität den hervorgerufenen Reflex zu stören oder ihn vollständig zu stoppen. Aus diesem Grund ist die Anwendung der Vojta-Methodik auf klassische Art und Weise kompliziert und in einer Reihe von Fällen sogar unmöglich.
Im Alter von anderthalb Jahren bis etwa vier, fünf Jahren sind die kognitiven Fähigkeiten des Kindes noch nicht ausgereift, und die Möglichkeit, rationell die Gründe zu verstehen, warum es die Reflexstimulierung dulden und nicht stören soll, ist praktisch gleich Null. Das Kind widersetzt sich der Stimulierung und versucht, aus den Reflexpositionen zu entkommen, da ihm die durch Druck hervorgerufene Reflexbewegung unangenehm ist und es ihre Bedeutung nicht verstehen kann. Erhöht man die Intensität der Stimulierung, um das Kind in der gegebenen Lage zu halten und zu fixieren, wird auch der hervorgerufene Reflex intensiver. Gleichzeitig beginnt das Kind, an der Stimulierungsstelle den Druck bereits als schmerzhaft zu empfinden, und seine Bemühungen, dieser psychisch und physisch unangenehmen Situation zu entkommen, werden stärker. Die Eltern geben die Therapie meistens recht bald auf, da es ihnen in dieser Situation nicht sinnvoll erscheint, damit weiterzumachen. Diese Einstellung führt leider zu einer Reihe von Missverständnissen und anschließendem therapeutischem „Nihilismus“ mit allen seinen verhängnisvollen Folgen. Einige Physiotherapeuten verwenden, um dieser auch für sie unangenehmen und frustrierenden Situation auszuweichen, „Notlügen“ und erklären, dass die Vojta-Methodik in diesem Alter nicht funktioniert. Beziehungsweise dass sie, etwas unlogisch, wieder zu funktionieren beginnt, sobald das Kind soweit heranreift, dass man beginnen kann, schon rationell mit ihm zusammenzuarbeiten.
Auch über das Bemühen, die VM in diesem Alter anzuwenden, bietet das Internet eine Reihe von Berichten und Videos.
Video – Kind bei der Klassischen VM
Psychologische Wahrnehmung der therapeutischen Stimulation von Seiten der die therapeutische Pflege durchführenden Eltern und nahen Verwandten des Kindes
Die Eltern des Kindes können die Vojta-Therapie recht ambivalent empfinden. Auf der einen Seite sehen sie, dass die Entwicklung ihres Kindes auf irgendeine Art und Weise bedroht ist, vor allem wenn der fachliche und objektiv belegte Befund beunruhigend ist. Auf der anderen Seite erschöpft sie die Belastung der drei- bis viermal pro Tag erfolgenden Reflexstimulation physisch und psychisch und schränkt ihre Freizeit- und Entspannungsmöglichkeiten drastisch ein. Zur geläufigen Säuglingspflege kommt noch eine anstrengende, sich wiederholende und langzeitige Therapie hinzu. Auch die Unmöglichkeit, sie zumindest zeitweilig an andere Personen zu delegieren, wie dies z. B. mit der Kinderbetreuung geht, verursacht chronische Erschöpfung.
Die Therapie ist größtenteils Sache der Mütter, die Väter beteiligen sich meist weniger. Allgemein ertragen Männer die Säuglingstherapie nur schwer. Dahinter verbirgt sich ein physiologischer Mechanismus, denn das Schreien des Säuglings erhöht bei Männern den Blutdruck und zwingt sie zum Handeln, um „ihren Nachkömmling zu retten“. Bei der Therapie erwartet man von ihnen hingegen, dass sie das Schreien nicht nur über sich ergehen lassen, sondern auch noch dazu mit ihrer Tätigkeit beitragen. Großeltern ertragen in der Regel das Weinen und Schreien ihrer Enkel noch schlechter. Wenn sie denn diese „Behandlungsweise“ nicht kritisieren und nicht als „Quälerei des Kindes“ verurteilen, verlassen sie lieber schnell den Ort, an dem die Therapie stattfindet.
„Die psychologische Belastung, der die mit der Vojta-Methodik arbeitenden Physiotherapeuten ausgesetzt sind, ist beträchtlich. Vor allem sie sind es, die die Verantwortung dafür tragen, wie die Therapie zu Hause abläuft. Und nicht zuletzt tragen sie auch die Mitverantwortung für die zukünftige Entwicklung des Kindes. Das Ganze ist umso anstrengender, weil in den frühen Stadien der Säuglingsentwicklung, vor allem in den ersten sechs Monaten, die Bedrohung der zukünftigen motorischen Entwicklung nur von einem rein fachlichen Gesichtspunkt aus erkennbar ist. Der Physiotherapeut ist es, der die Mütter und weitere Familienmitglieder überzeugen muss, dass die Durchführung der häuslichen Therapie notwendig ist. Langjährige Praxis deutet auf eine Tatsache hin, die die Therapie wesentlich verkompliziert, und zwar, dass praktische Kinderärzte keine Ausbildung bezüglich rechtzeitiger Diagnostik haben, wie sie bereits Anfang der 70er Jahre von Dr. Vojta eingeführt wurde – siehe Ausbildung von Kinderärzten in rechtzeitiger Diagnostik von Säuglingen.“1
Genau wie bei der Durchführung der eigentlichen Therapie stellt auch die Durchführung der diagnostischen Untersuchung des Kindes sowie die kontinuierliche Beurteilung seines Zustands eine große Belastung dar. Ein Kapitel für sich sind die hohen, an die psychologischen und sozialen Fertigkeiten der Therapeuten gestellten Anforderungen bei der supervisionellen Betreuung der Eltern als häuslichen Therapeuten.
1 Empfehlung von Prof. Komárek zur postgradualen Ausbildung von Kinderärzten, Kinderneurologen und -physiotherapeuten bezüglich rechtzeitiger Diagnostik im Säuglingsalter)
PAPOUŠEK, Mechthild. Regulationstörungen der frühen Kindheit. Bern: Verlag Hans Huber, 2004. ISBN 3-456-84036-5.
2 Doporučení prof. Komárka k pregraduálnímu vzdělávání pediatrů, dětských neurologů a fyzioterapeutů ve včasné diagnostice kojeneckého věku.